Frag 10 Menschen, was sie unter Treue in einer Beziehung verstehen, und Du erhältst vermutlich 11 unterschiedliche Antworten.

Wo fängt Fremdgehen an – im Kopf oder im Bett?

  • Auf einer Party jemand anderen zu küssen: ein harmloser Ausrutscher, wenn es unter Alkoholeinfluss passierte – aber unverzeihlich, wenn es nüchterne Absicht war?
  • Eine innige Freundschaft zur Exfreundin – kann ich ihm das gönnen, oder werde ich krank vor Eifersucht?
  • Gelegentliche One-Night-Stands finden manche okay, solange keine Gefühle im Spiel sind. (Gleichzeitig sind die meisten der Meinung, dass Sex erst mit der Wiederholung gut wird.)
  • Mit meinem Partner zu schlafen, aber dabei einen anderen im Kopf zu haben, ist das Untreue? Manch eine/r würde ausrasten, egal ob es um eine abstrakte Gruppensexfantasie geht, oder um diesen neuen Kollegen mit dem gewinnenden Lächeln.
  • Andere Paare sind liberaler: solange vorher um Erlaubnis gefragt wird, ist der Seitensprung in Ordnung. Erst Verheimlichen bedeutet für sie Untreue.

Vergleicht man die unterschiedlichen Definitionen von Treue, wird deutlich, wie willkürlich die Grenze zwischen Treue und Untreue gezogen wird.

Allen Situationen gemeinsam ist die Vorstellung: Mein Partner gehört mir und muss deshalb nach meinen Regeln leben.

Was dein Selbstwertgefühl mit Treue zu tun hat


Früher war ich furchtbar eifersüchtig. Ging mein Freund abends noch mit Kollegen aus, witterte ich Betrug. Klickte er gerade ein Fenster im Browser zu, wenn ich ins Zimmer kam, hatte er bestimmt heimlich mit einer anderen gechattet. Dabei hatte ich schon immer das Gefühl, selbst ‘das Problem’ zu sein, und versuchte es mit mir selbst auszumachen. Jahrelang mit mäßigem Erfolg.

Durch meine Depression bekam ich dann Gelegenheit, mein Selbstwertgefühl zu hinterfragen. Oder eher: es führte kein Weg mehr daran vorbei. Mit nützlichem Nebeneffekt: Denn mit steigendem Selbstwertgefühl wurde auch meine Vorstellung von Treue immer entspannter. Ich musste nicht mehr fürchten, bei erster Gelegenheit meinen Freund an eine andere zu verlieren: weil ich Treue nicht mehr eindimensional mit dem Unterleib sah, sondern die Vielschichtigkeit erkannte, die darin liegen kann. Und das Große, das aus einer neuen Definition von Treue entstehen kann.

Treue neu definiert

fidelity  [faiˈdeliti] = Treue, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit (Quelle: Langenscheidt)

Folgende Werte umschreiben Treue auf eine Weise, die gar nichts mit Sex zu tun hat. Sie nehmen der sexuellen Treue das Gewicht. Und eröffnen so einen neuen Spielraum, in dem Wachstum und Freiheit möglich werden:

1. Loyalität

Lass Deinen Partner bei Problemen nicht fallen. Steh auch schwierige Zeiten zusammen mit ihm durch (Krankheit, Probleme mit der Arbeit, den Tod der Eltern…).

2. Ehrlichkeit

Lüge nicht in Dingen, die den anderen verletzen würden. Wenn Du das Gefühl hast, etwas besser zu verheimlichen, ist das gerade ein Grund, genauer hinzuschauen.

3. Verletzlichkeit

Zeige Deine Ängste und Schwächen und teile Deine Sorgen mit Deinem Partner. Niemand ist perfekt. (Fast) Jeder von uns hat einen kleinen Teufel auf der Schulter, der uns kritisiert oder Selbstzweifel einflüstert. Indem wir uns verletzlich zeigen, schaffen wir die Basis für große Nähe.

4. Absicht

Habe den Willen, das Leben mit Deinem Partner teilen zu wollen, eine gemeinsame Zukunft zu planen. Das bedeutet nicht zwangsläufig Kinder/Haus/Karriere. Absicht zeigt sich auch in kleinen, alltäglichen Dingen: Mein Freund teilte mir im September mit, dass er fürs Silvesterdinner in einem unserer Lieblingslokale reserviert habe. Für mich ein inniger Treuebeweis, da es für ihn außer Frage stand, dass wir dann zusammen sein und gemeinsam feiern werden.

5. Unterstützung

Dein Partner hat Vorhaben oder Träume, die ihm wichtig sind, vielleicht mehr als er es sich selbst eingesteht? Steh hinter ihm und unterstütze ihn im Rahmen Deiner Möglichkeiten. Dafür musst Du diese Träume nicht teilen. Denn Dein Partner und Du seid keine verschmolzenen Seelen, sondern eigenständige, starke Menschen. Da ist es egal, ob Er das Fliegenfischen lernen oder einen VW-Käfer-Verein gründen will, oder ob Sie das halbe Jahr im Ausland arbeiten möchte, das sie sich im Studium nicht leisten konnte – Sich diese Träume gemeinsam anzusehen, ohne gleich die “Das ist doch Unsinn und lohnt sich nicht”-Keule zu schwingen, bedeutet “Ich sehe Dich, ich nehme Dich ernst”.

Treue ist so viel mehr als nur sexuelle Exklusivität.

Sexuelle Treue gilt in den meisten Beziehungen als oberstes Gebot. Sie zu verletzen, bedeutet nicht selten das konsequente Beziehungs-Aus. Gleichzeitig aber wird Sex als so geringwertig eingestuft, dass man dafür doch nicht ‘durch fremde Betten hüpfen’ muss, und sich gefälligst zu beherrschen hat. Ich finde das bigott.

Trau Dich, Deine Vorstellung von Treue neu zu überdenken. Du kannst es am Anfang allein auf Dich wirken lassen, Dein Unterbewußtsein den Job tun lassen, bis Du eines Tages merkst, dass Du entspannter wirst und weniger eifersüchtig. Spätestens dann sprich auch mit Deinem Partner darüber, denn eins bleibt bei aller Neudefinition unerlässlich: Sich auf einen gemeinsamen Nenner zu verständigen.


Du hältst das alles für ausgemachten Blödsinn oder möchtest von Deinen eigenen Erfahrungen berichten? Schreib mir einen Kommentar!


Diese Artikel könnten Dich auch interessieren: 

5 wertvolle Tipps für Offene Beziehungen – Lottas Erfahrungsschatz

Offene Beziehung ist, was Du draus machst