Nur wer die Sehnsucht kennt, 
Weiß, was ich leide! 
Allein und abgetrennt 
Von aller Freude, 
Seh´ ich ans Firmament 
Nach jener Seite. 
Ach! der mich liebt und kennt, 
Ist in der Weite. 
Es schwindelt mir, es brennt 
Mein Eingeweide. 
Nur wer die Sehnsucht kennt, 
Weiß, was ich leide!

(J.W. von Goethe, 1795)

Niemand hat behauptet, dass Liebe einfach wäre. 

Und es gab wohl noch keine Liebe auf diesem Planeten, die nicht auch bittersüße Sehnsucht, Angst und Schmerz im Gefolge hatte. Das Brennen in den Eingeweiden.   Vor kurzem habe ich über meinen ersten Dreier geschrieben, und dass dieses Zusammentreffen die Liebe in mir weckte. Nicht von heute auf morgen – sie ist über die Wochen des Wieder- und Wiedersehens gewachsen.

Jetzt hab ich den Salat. Statt einfach nur zu genießen, was möglich ist, brennt es in den Eingeweiden, wenn er nicht da ist.  Gerade, wenn man wie ich zu Depression neigt, können diese Gefühle zu einer lähmenden Schwere führen. Zu einem Tunnelblick, der im schlimmsten Fall alltagsuntauglich macht. Auf jeden Fall aber den Blick für das Schöne, Leichte, Unbeschwerte verstellt, das gleichzeitig in unserem Leben existiert.

Aber Verliebtsein macht mich dermaßen hibbelig, dass ich von mir selbst genervt bin! Ohne ihn zu sein macht mich ängstlich und traurig. Und diese Schwere in den Gliedern, das Ziehen im Herzen, wenn er nicht da ist – das ist doch real! Oder nicht?

Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern was wir über die Dinge denken.

Epiktet, antiker Philosoph

Wir sind nicht unsere Gedanken. 

In unseren Gehirnen spielt sich eine tägliche Seifenoper ab, ein Drama in 365 Akten, das nur wenig mit der Realität zu tun hat. 
Denn unsere Gedanken – und damit unsere Gefühle – entstehen erst durch die eigene Bewertung der äußeren Umstände. In der kognitiven Verhaltenstherapie beschreibt man die Entstehung eines Gefühls mit folgenden Schritten:   

  1. Eine Situation tritt ein (der Geliebte ist abwesend)
  2. Die Situation ruft einen Gedanken hervor (positiv – negativ – neutral)
  3. Der Gedanke löst eine Reaktion im Gehirn aus (chemisch-physiologisch)
  4. Durch die ausgeschütteten Botenstoffe entsteht ein Gefühl 

Beispiel:

  1. Situation: Mein Geliebter ist nicht bei mir, er unternimmt etwas ohne mich 
  2. Gedanke: Er ist ohne mich glücklicher, mein Leben ist ohne ihn leer, er wird sich trennen*
  3. Reaktion: Stresshormone werden ausgeschüttet
  4. Gefühl: der Puls erhöht sich, ich werde unruhig, ich spüre Druck oder Schwere auf der Brust, ich fühle Angst vor dem Verlassen werden oder Traurigkeit.

    Kann man schon so machen, hab ich ausprobiert – fühlt sich aber scheiße an. Und der schönste Tag zog an mir vorbei, weil ich ihn vor Sorge und Kummer nicht sehen konnte. Wohlbemerkt: unberechtigter Sorge und völlig überflüssigem Kummer.  

Soll ich meine Gefühle jetzt unterdrücken?

Bloß nicht – denn Gefühle, die wir nicht zulassen, verschwinden nicht einfach von selbst. 


Sie konservieren sich tief in uns – seelisch und körperlich. Gelebte Gefühle dagegen sind nie von Dauer. Im ersten Moment ist es erschreckend, die Angst und die Trauer zuzulassen. Aber wenn man sich ihnen stellt, können sie sich von alleine auflösen, und sogar neuen, angenehmen Gedanken und Gefühlen Raum schaffen.

Ich habe mich deshalb gefragt, wo das Gedankenmuster seinen Ursprung hat. Und bin in der Kindheit fündig geworden – der Zeit, die unsere Persönlichkeit nun mal am meisten prägt. Durch häufige Ortswechsel konnte ich als Kind nie richtig Fuß fassen. Stattdessen zwang mich jeder Umzug, in einer neuen Schulklasse oder Clique meinen Platz zu finden. Dadurch fiel es mir schwer, mich als dazugehörig zu empfinden – ich sah mich als zwar akzeptierte Randperson, aber nie relevant für die Gruppe. 

* Und hier schließt sich der Kreis: ich dachte, alle sind glücklich außer mir, und ich habe mich oft einsam gefühlt.

Inneres Drama versus Realitätscheck

Unterzieht man dieses Gedankenmuster nun einem Realitätscheck, stellt man fest: ich bin nicht mehr das Kind von damals.
Meine Situation hat sich verändert. Ich bestimme nun selbst, wo und mit wem ich lebe. Und am wichtigsten: ich suche mir die Menschen aus, mit denen ich mich umgebe – und bin kein Spielball des Zufalls oder elterlicher Entscheidungen mehr.

Damit wird deutlich, was Psychologen als Selbstwirksamkeit bezeichnen: ich habe einen Einfluss auf mein Leben und meine Gefühle. Diese Selbstwirksamkeitserwartung wird als ein Schlüsselfaktor zur Resilienz angesehen, also zur Fähigkeit, sein Leben auch durch Krisen hindurch zu meistern. Das Drama “es geht zu Ende mit mir, wenn er nicht da ist!” wird wieder auf meiner Gehirnbühne stattfinden. Aber ich habe beschlossen, ihm kein Publikum mehr zu sein.

Stattdessen wage ich es mal mit folgendem, neuen Skript:

„Mein Geliebter unternimmt etwas ohne mich. Er hat mir gesagt, dass ich ihm wichtig bin und er gerne Zeit mit mir verbringt. Sein Verhalten mir gegenüber bestätigt das. Ich bin nicht mehr das einsame Kind von früher, sondern von Menschen umgeben, die mich lieben. Mein Ziel ist es, eine starke und unabhängige Frau zu sein. Angst und Trauer sind Gefühle, die ich zulassen und aushalten kann. Diese Gefühle werden schwächer, je mehr ich sie zulasse, und werden leichteren Gefühlen Platz machen …“   

… Und bis mir dieser neue Gedanke in Fleisch und Blut übergeht, halte ich die Sehnsucht aus, das Brennen in den Eingeweiden. Freue mich daran, zu solchen Gefühlen fähig zu sein. Denn alle Gefühle, ob wir sie als negativ oder positiv bewerten, machen das Lebendigsein aus.   

Dabei denke ich an die Worte einer Freundin, die kürzlich sagte:

Liebe bedeutet nicht, den anderen zum eigenen Glück zu verpflichten. Sondern selbst alles zu tun, um ihn glücklich zu machen.

Auch wenn das bedeutet, loszulassen.