Lvstprinzip von Theresa Lachner – eine Biographie des Begehrens (Rezension)
Theresa ist irgendwie immer von allem zuviel. Zu laut, zu freizügig, zu nachdenklich, zu dick, zu dünn, zu erfolgreich, zu selbstkritisch, zu viele Gefühle auf einmal. Und für manche Menschen sieht sie einfach nur aus wie ein riesiges, rosa Baby. Hinter Deutschlands erfolgreichster Sexbloggerin (Lvstprinzip) Theresa Lachner erwarten offenbar alle ein zierliches, sexy Frauchen, und dann: Auftritt Theresa. 180 Zentimeter, Kleidergröße irgendwas-jenseits-der-40, damit konnte ja niemand rechnen. Naja, immerhin ist sie ja irgendwie witzig.
Und jetzt hat sie auch noch ein Buch geschrieben. Um “Lvstprinzip” von Theresa Lachner beschreiben zu können, muss ich erstmal an einer völlig anderen Stelle beginnen. In meinem Schlafzimmer.
Das Lvstprinzip von Theresa Lachner und mein Sexleben – wie alles begann
Wir gehen ein paar Jahre zurück. Bevor Theresa ihr Blog Lvstprinzip an den Start bringt und damit meine Welt verändert. Da haben mein Freund und ich gerade eingesehen, dass unser Sex nicht so weiterfunktioniert, nur an der Oberfläche der guten Sitten dümpelnd. Und dass wir uns verdammt nochmal mit unseren wahren Begierden auseinandersetzen müssen.
An Ostern 2015 fällt also Lvstprinzip, dieser “Freiraum für sexuelle Gedanken”, perfekt getimed auf den fruchtbaren Boden meines zurück auf Start gesetzten weiblichen Selbstverständnisses. Theresa bringt mit Blogartikeln wie “In was verliebst du dich?” oder “Es muss egal sein dürfen” meine innere Gouvernante gegen sich auf, während meine innere Schlampe gleichzeitig ruft: “Ja verdammt, es muss egal sein, wen und wieviele und wo ich liebe!”
Gefühle sollten einfach und immer da sein dürfen. Ohne Grund, ohne Rahmen, ohne vermeintliche Bedrohung für irgendwelche konventionellen Werte.
Aus: “Es muss egal sein dürfen” auf lvstprinzip
Der Rest ist Geschichte. Mein Freund und ich reden Klartext über unsere Fantasien, erlauben uns, nicht alles miteinander erleben zu müssen und starten eine offene Beziehung.
Theresa Lachner trägt also einen bedeutenden Part daran, dass mein Leben und meine Liebe heute so sind, wie sie sind. Als Leserin ihres Blogs dachte ich, diese Frau kann nichts umhauen. Eine, die sich cool ans Set eines Porno-Drehs schreibt, um über die Szenen hinter der Kamera zu berichten, die ist bestimmt schon mit einem krassen sexuellen Selbstbewusstsein auf die Welt gekommen.
Und jetzt lese ich ihr gleichnamiges Buch und merke, wie ich selbst meinen Erwartungen auf den Leim gegangen bin. In Wahrheit ist es nämlich ziemlich unglamourös, eine Sexbloggerin zu sein. Und auf keinen Fall die Garantie für guten Sex.
Worum geht es im Buch “Lvstprinzip” von Theresa Lachner?
Theresa Lachner beginnt “Lvstprinzip” mit dem Moment, in dem sie weg muss. Weg aus Deutschland, weg aus einer eigentlich doch ganz okayen Beziehung, die sie erst im Rückblick als das versteht, was sie ist: eine Gewalterfahrung.
Sie erzählt von ihrem Neustart in Vietnam. Von ihren Freundinnen My und Tutu, die zwar auf YouPorn schon einiges gesehen haben, aber mit dem eigenen Freund seit Jahren nur Händchen halten. Auch von deren Eltern, die beim Anblick dieses rosa Riesenbabys namens Theresa in Verzückung ausbrechen. Den Expats und den ersten digitalen Nomaden, die alle irgendwas in Bitcoin machen und sich trotz Weltverbessererhabitus nur 40 Jahre nach dem Krieg in ihrem Gastland auf irritierende Weise wie Eroberer aufführen.
Das tatsächliche Leben als digitale Nomadin
Theresa fühlt sich wohl in Saigon. Aber die Vergangenheit, diese vermeintlich verkorkste Beziehung, verfolgt sie. Und so zieht sie weiter, von Vietnam nach Kambodscha, für einen Reiseführerverlag. Im bisher ärmsten Land der Welt, in dem sie je war, sitzt sie nun im teuersten Hotel, in dem sie je wohnte, um tags darauf auf eine tausende Dollar teure Mekong-Kreuzfahrt aufzubrechen. Der Verlag ist mit ihrem Probetext über die Reise zufrieden und schickt sie daraufhin quer durch Asien. Theresa reist und schreibt und reist. Und aus der Arbeit für den Verlag wird ein Lebensmodell. Erst als Reiseschreiberin, später dann als Sexkolumnistin.
Dabei berichtet sie so eindrücklich von ihren Beobachtungen und Erlebnissen in solch armen Ländern wie Kambodscha oder Myanmar, dass es mir die Härchen aufstellt und mein Bauch flau wird. Ihr gelingt damit etwas, das ich so bisher nur von Andreas Altmann kannte, diesem wütenden und schonungslos offenen Mann der Reiseliteratur.
Offene Augen statt Backpacker Romantik
Wie fühlt es sich an, in viel zu kurzen, abgeranzten Backpacker-Hotpants im ärmsten Land der Welt aufzukreuzen? In Ländern, wo die meisten Menschen ein Set guter Kleidung haben, das sie jeden Abend waschen: ziemlich peinlich. Brasilien dagegen einfach nur scheiße finden, wegen der Gewaltbereitschaft und der Balzrituale: darf man. Dabei schwingt sie weder die Moralkeule, noch versucht sie Weltverbesserungstipps einzuflechten. Sie beschreibt einfach, was sie durch offene Augen sieht.
Auch über die Bruderschaft der digitalen Nomaden, die vordergründig so voller Veränderungswillen und positive spirits sind, auf den zweiten Blick aber doch alle nur mit westlichem Reichtum 1 geiles life führen wollen.
Die Entpuppung einer freien Frau – und was Sex damit zu tun hat
Und dann ist da der zweite Teil der Geschichte, der sich mittels Flashbacks durch das ganze Buch zieht. Wir erinnern uns, die verkorkste Beziehung. Denn je mehr Theresa bei ihrer Arbeit als Sexkolumnistin ausprobiert und reflektiert, desto mehr wird ihr klar: Was mir passiert ist, war kein etwas schiefgegangener Versöhnungssex. #metoo, das bin auch ich.
“‘Das musst du falsch verstanden haben’, (…) und du überlegst tatsächlich einen Moment lang, ob es dein eigener Fehler war.”
Theresa Lachner, Lvstprinzip, S. 21
Theresa Lachner berichtet in Lvstprinzip von schrägen Tantraseminaren und ziemlich brauchbarer Orgasmic Meditation. Von Bondageworkshops und selbst veranstalteten Play Partys. Und durch alle Erfahrungen und sexuellen Begegnungen zieht sich eine Aufforderung als roter Faden durch das Buch:
Frei sein bedeutet Nein sagen können
Sag Nein zu Sex, der sich nicht richtig anfühlt. Geh keine Kompromisse ein.
Trau deinem Empfinden, wenn es dir sagt: das war nicht okay. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden, du seist zu empfindlich, zu risikobereit, hättest da was falsch verstanden, und überhaupt, hast du es nicht auch ein bisschen gewollt? Vertrau auf dein eigenes Gefühl, was richtig und was falsch ist.
Und können wir bitte endlich mal alle damit aufhören, anderer Leute Körper zu kommentieren?
“Vermutlich musste ich erst das Standing bekommen, das ich jetzt habe, um mir erlauben zu können, all das zu fühlen, was ich jetzt fühle.”
Theresa Lachner, Lvstprinzip, S. 146
So viel Verletzung, Schmerz und gut gemeinte Sätze, die am Ende nur eins waren: hingeschleuderte Beleidigungen. All das taucht, während ich dieses Buch lese, auch in meinen Erinnerungen auf. Ich erinnere mich zum Beispiel an Sex, den ich unter ‘war nicht so doll’ abgelegt hatte. Und frage mich jetzt, ob nicht doch Grenzen überschritten wurden.
“Stell dich nicht so an”, sagt die innere Gouvernante, aber ich weiß gleichzeitig, dass Theresa Recht hat. Es gibt Menschen, die ein Gefühl der Unterlegenheit nur mit psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt kompensieren können, jedes Mal, wenn man zu unabhängig, zu erfolgreich, zu viel … ist. Und im Nachhinein betrachtet hätte ich einige Male einfach Nein sagen sollen.
“Das Leben kann wirklich immer nur vorwärts gelebt und rückwärts verstanden werden.”
“If you’re not saying ‘HELL YEAH!’ about something, say ‘no’.”
Derek Sivers, Zitat in Theresa Lachners Buch Lvstprinzip, Seite 112
“Lvstgefühl” und das Gefühl, das bleibt
Obwohl ich Gutes gern im Rausch verschlinge, musste ich “Lvstprinzip” in zwei Etappen lesen, einfach weil es emotional so viel gemacht hat mit meinem Inneren. Und weil ich nicht wollte, dass es zu Ende geht.
Jetzt sitze ich auf meinem Sofa, als ich das Buch nach der letzten Seite endlich doch schließen muss. Vor dem Wohnzimmerfenster geht gerade die Spätsommersonne unter und wirft ein safrangoldenes Licht über die Wiesen. Eine Uhr tickt, der Kühlschrank summt. Sonst kein Laut. Und tief in mir eine Ruhe, die lange nicht da war. Ich weiß, es ist gut. Ich bin gut.
Und wenn ich jemandem sage ‘Bitte, an der Klitoris etwas weiter links oben’, dann habe ich es verdient, dass der andere sagt: ‘Alles klar, danke, kann ich sonst noch was für dich tun?’ Und mir kommt ein Verdacht: ich glaube, genau so fühlt sich Selbstliebe an.
“Es denkt nämlich echt jeder ab und zu, die abgefuckteste Person auf dieser Welt zu sein, aber sobald du darüber redest, wirst du feststellen, dass das Quatsch ist.
Das hier wird alles niemals perfekt sein, aber das muss es auch gar nicht. Denn es ist jetzt. Und das reicht.”
Theresa Lachner, Lvstprinzip, S. 235
“Lvstprinzip” von Theresa Lachner
Theresa Lachner
Lvstprinzip
erschienen am 13. September 2019 im Aufbau Verlag
240 Seiten, Hardcover und eBook
Herzlichen Dank an den Aufbau Verlag, der mir das Rezensionsexemplar unentgeltlich zur Verfügung gestellt hat.
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